Freitag, den 18. Oktober 2024

IM KAFFEESATZ LIEGT DIE WAHRHEIT

Kaffeesatz lesen ist – wie manches aus der Hand lesend vorausgesagt wird – ein Ritual, zumindest für jene die daran glauben. Für mich ist das eine Metapher, denn die weltumspannende Bohne kann nicht nur Geschichten erzählen, hat sie mitunter nur zu oft Geschichte geschrieben. Denken wir an die Hochburgen der französischen Revolutionäre – an die Pariser Cafés. Im Café Procope trafen sich Jean Paul Marat, Maximilien de Robespierre, Georges Danton, Jacques-René Hébert und Camille Desmoulins, um bei Kaffee und Wein über die aktuelle Situation zu diskutieren. Denken wir an die Treffpunkte der Literaten, Musiker und Maler in Wiener Kaffeehäusern. Zum Stammpublikum der Kaffeehausszene gehörten die Schriftsteller Alfred Adler, Peter Altenberg, Hermann Bahr, Richard Beer-Hofmann, Hermann Broch, Egon Friedell, Hugo von Hofmannsthal, Karl Kraus, Anton Kuh, Robert Musil, Leo Perutz, Ernst Polak, Alfred Polgar, Joseph Roth, Felix Salten, Arthur Schnitzler. Friedrich Torberg und Franz Werfel, aber auch Maler, wie Gustav Klimt, Egon Schiele und Oskar Kokoschka, die Architekten Adolf Loos und Otto Wagner und die Komponisten Franz Lehár und Alban Berg.

> | „Das Wiener Kaffeehaus stellt eine Institution besonderer Art dar, die mit keiner ähnlichen der Welt zu vergleichen ist. Es ist eigentlich eine Art demokratischer, jedem für eine billige Schale Kaffee zugänglicher Klub, wo jeder Gast für diesen kleinen Obolus stundenlang sitzen, diskutieren, schreiben, Karten spielen, seine Post empfangen und vor allem eine unbegrenzte Zahl von Zeitungen und Zeitschriften konsumieren kann“.

„So wussten wir alles, was in der Welt vorging, aus erster Hand, wir erfuhren von jedem Buch, das erschien, von jeder Aufführung und verglichen in allen Zeitungen die Kritiken; nichts hat so viel zur intellektuellen Beweglichkeit des Österreichers beigetragen, als dass er im Kaffeehaus sich über alle Vorgänge der Welt umfassend orientieren und sie zugleich im freundschaftlichen Kreise diskutieren konnte. Täglich saßen wir stundenlang, und nichts entging uns. Denn wir verfolgten dank der Kollektivität unserer Interessen den orbis pictus der künstlerischen Geschehnisse nicht mit zwei, sondern mit zwanzig und vierzig Augen (…)“ < |*Zitat

AUTOR: © Prof. Ali Meyer
*ZITAT: © Stefan Zweig | „Die Welt von Gestern“ | rückblickend auf seine Jugendjahre im Kaffeehaus

 

IN VINO VERITASKAFFEE
IM KAFFEESATZ LIEGT DIE WAHRHEIT
CAFÉ ENGLÄNDER • WIEN

Was ist wo los? Im unteren IM KAFFEESATZ LIEGT DIE WAHRHEIT-LEITFADEN » findet man Nützliches bis Außergewöhnliches über eine Bohne, die wie der Wein weltumspannend ist. Die Kultur des Kaffeetrinkens kann viel erzählen: Die Kaffeehäuser in vielen Städten sind voller Geschichte – insbesondere Wien.


CAFÉ ENGLÄNDER – TREFFPUNKT DER BOHÈME

DAS VORMALIGE CAFÉ WINDHAAG

Das 1938 vom Architekten Hermann Heinrich Stiegholzer in der Wiener Innenstadt errichtete Wohn- u. Geschäftshaus Postgasse 1-3, realisierte er mit der „Neuen Sachlichkeit“. Man gestaltete einen sowohl funktional als auch ästhetisch ansprechenden Bau. Stiegholzer und sein Partner Herbert Kastinger gehörten unter den in der Zwischenkriegszeit tätigen Architekten der jüngeren Generation an. Das von Stiegholzer & Kastinger gute 8 Jahre zuvor errichtete, heute nicht mehr existente Arbeitsamt für Baugewerbe im sechzehnten Wiener Gemeindebezirk, war das erste Gebäude dieser Formensprache. Es gelang den beiden jungen Architekten, beispielgebende architektonische Strukturen für diesen Typus auszuarbeiten. Das besondere an dem Gebäude in der Postgasse ist jedoch etwas anderes – es ist die Kaffeehausgeschichte. Da befand sich zuvor das frühere, vor allem dann in den 80er-Jahren leider als eher schmuddelig bekannte, der legendären Gastronomenfamilie Koranda gehörende „Café Windhaag“. Da konnte man jedoch hervorragend speisen und mit Öffnungszeiten von 6.30 bis 24 Uhr lange verweilen – allen voran die Kultur- und Medienwelt. Persönlichkeiten aus der Wiener Kulturszene wie Maxi Böhm bzw. Karl Farkas zählten zu den Stammgästen. Das Café Windhaag ist nie zur Kaffeehauslegende geworden. Aber sein Gründer – Fredl Engländer – wurde Namenspatron für eine neue Ära, so zumindest wird es in der Presse der Vergangenheit immer wieder kolportiert, wenn auch die Werdung, der Niedergang und die Wiederauferstehung des „Café Engländer“ etwas wie der „Englische Patient“ anmutet.

 

CAFÉ ENGLÄNDER

„Im Kaffeehaus“, bemerkte der österreichische Erzähler Alfred Polgar einmal an, „im Kaffeehaus sitzen Leute, die alleine sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen.“ Daran hat sich nichts geändert. Eine ganze Reihe von Dichtern und Denkern werden weiterhin inspiriert, Medienschaffende kreativ und kulturaffine Zeitgenossen aktiv. Netzwerken ist die moderne Bezeichnung unserer Zeit.

Es bedurfte zweier großer Anläufe um in diesen Räumlichkeiten wieder eine große Wiener Kaffeehauskultur entstehen zu lassen. Mit Beginn der 90er-Jahre entdeckte die Künstler- und Bohèmienszene die Gastronomie als Bühne. Das „Café Alt Wien“, „Oswald & Kalb“ sowie das „Prückel“ und das „MAK-Café“ am Ring, sozusagen alle um die Ecke, waren mehr als gefüllt mit Gästen. Das war für Christian Wukonigg und Attila Corbaci, gemeinsame Türsteher bei Oswald & Kalb, Grund genug den Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen. Das „Café Engländer“ wurde geboren, 1991 zumindest das erste mal, mit Billardzimmer, Loungebereich und einer Bar des Künstlers Walter Pichler. Das parallele Konzept der „Brasserie-Engländer“ in der ehemaligen Hutfabrik Habig ging wie angedacht leider nicht auf, das ganze Unternehmen, inklusive Café Engländer, mussten sich der Insolvenz stellen. Wukonigg hatte nach eigener Darstellung „damals zu teuer gekauft, zu teuer umgebaut und überhaupt zu teuer finanziert. Irgendwann haben wir die aberwitzig hohen Rückzahlungen nicht mehr geschafft “. Aber manche Menschen sind hartnäckig bzw. folgen unbeirrt ihrer Vision. Christian Wukonigg kehrt zurück und eröffnet 2002 erneut das Café Engländer mit seinem 2017 verstorbenen Partner Wolfgang Jelinek – bis heute – mit bekannten Erfolg. Heute steht das Café auf wesentlich solideren finanziellen Beinen. Schließlich werden die Stammgäste als „Engländer“ bezeichnet. Christian Wukonigg seiner Version verhält sich die Namensgebung des Café Engländer wie folgt: Es sei eine Hommage an die berühmte Kaffeehauskultur der Wiener Jahrhundertwende. Der Name ginge auf die Kaffeehaus-Literaten-Ikone Peter Altenberg zurück: Altenberg hieß eigentlich Richard Engländer.

Vielleicht sollte man erwähnen das der wahre Chef, also jener mit der Autorität, im klassischen Kaffeehaus immer der Oberkellner ist, auf jeden Fall jene, zumeist Herren, der alten Zunft, die leider am aussterben sind. Herr Walter hatte bis zu seiner Pension im Café Engländer die Hosen an, das hat Hr. Roland übernommen. Die Herren wissen über ihre Stammgäste mehr als du in Facebook lesen kannst – vom sogenannten Kammersänger bis zum internationalen Filmstar. Illustre Gäste wie Fürst Schwarzenberg oder Yoko Ono standen nur zu oft nicht mit ihren eigenen Namen im Reservierungsbuch, waren lediglich Pseudonyme vermerkt. John Malkovic ist bis heute ein angesehener Besucher der Kultstätte. Ober und Therapeut gleichzeitig zu sein ist eine Kunst. Wer erinnert sich nicht an den legendären Maître Johann Georg Gensbichler im „Schwarzen Kameel“.

Heute ist das Café Engländer in der Wiener Postgasse schon lange eine Institution, gibt es praktisch jeden Tag „a Gschicht´l“, mit Wiener Schmäh, Charme und von kauzigen Originalen. Es ist schließlich ein Treffpunkt sehr illustrer Gäste. Wahrscheinlich etwas weniger von Prominenz überlaufen ist die neue Filiale am Wiener Praterstern.

AUTOR: © Prof. Ali Meyer
BILDER: © Ali Meyer + Preiser Records

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