GERHARD SCHIESSER–
ZUFÄLLIG NACH PORTUGAL VERSCHICKT
5.402 Kinder wurden zwischen 1947 und 1956 von der österreichischen
und portugiesischen Caritas von Österreich nach Portugal verschickt.
Gerhard Schiesser, heute 82 Jahre alt, war eines dieser Kinder.
WIE KAM ES DAZU, DASS SIE ALS ACHTJÄHRIGES KIND NACH PORTUGAL VERSCHICKT WURDEN?
Das war damals eine sehr schlechte Zeit in Österreich, es herrschte
Hungersnot. Mein Vater war im Krieg, dann in Gefangenschaft und kam
erst im Jahr 1948 nach Hause. Im gleichen Jahr kontaktierte uns die
Caritas Österreich. Man trat an Familien heran, die Probleme mit
der Ernährung und der Betreuung ihrer Kinder hatten. Dann hieß
es: „Wir könnten Ihren Sohn nach Portugal schicken.“
Das war eine große Überraschung, damals war das ein wahnsinnig
weiter Weg und man wusste in Österreich kaum etwas über das
Land.
WIE VERLIEF DIE REISE UND WIE WAR DIE ANKUNFT FÜR SIE?
Die Reise war recht abenteuerlich. Wir fuhren mit dem Zug von Wien
nach Genua – ungefähr 2000 Kinder waren in unserem Transport
dabei. Wir erreichten Lissabon per Schiff von Genua aus. Ich erinnere
mich heute noch an den Namen: Mouzinho – ein uralter Frachter.
In Lissabon gingen wir an Land und wurden im erzbischöflichen Palais
verköstigt. Ein Teil des Transports blieb in der Hauptstadt und
deren Umgebung, einige Kinder wurden in verschiedenen Klöstern
untergebracht, ein anderer Teil wurde nach Porto geführt –
darunter auch ich. Dort wurden wir von Pfarrern, Personen, die der Kirche
sehr nahe standen oder von Eltern ausgesucht. Natürlich waren das
anständigeFamilien, von denen man wusste, dass die Kinder dort
gut betreut werden würden – vor allem gesundheitlich. Bei
mir stellten die portugiesischen Ärzte fest: „Der Bub
wird sicher keine 16 Jahre erreichen.“ Ich bekam dann tagtäglich
ein Rührei mit Zucker. Man versuchte, mich aufzupäppeln, was
ihnen ganz gut gelang. Meine Eltern wussten nicht, wann ich wiederkomme.
Es hätten drei, vier Monate sein können und dauerte letztlich
elf Monate, weil man auf einen Gegentransport warten musste. Ich wurde
von einem Pfarrer in eine kleine Ortschaft gebracht, die Santa Maria
de la Lamas hieß, wo die Verhältnisse ärmlich waren.
Täglich gingen die Kindern in den Wald, um für die offenen
Feuerstellen Eukalyptusäste,- und -Rinden zu sammeln. Der Pfarrer
brachte mich zum Haus seines guten Freundes Henrique Amorim, der mein
Pflegevater wurde. Dessen Familie hatte eine kleine Korkfabrik und war
dadurch wohlhabend. Dass ich genau dorthin kam, war rein zufällig.
Das Leben ist vom Zufall geprägt. Wenn man die Chance hat und diese
nicht beim Schopf packt, dann ist es vorbei. Bei der Familie Amorim
begann dann mein Abenteuer in Portugal, das eigentlich mein ganzes Leben
gestaltete.
WIE WAREN IHRE ERSTEN EINDRÜCKE VON PORTUGAL UND DEN PORTUGIESEN?
Als junger Mensch, der hungrig nach Portugal kam, war das Essen das
Wichtigste. Was uns alle begeisterte – darüber habe ich mit
vielen Freunden gesprochen – das waren die Südfrüchte.
In der Zeit um 1948 kannten wir Kinder weder Orangen noch Bananen. Das
war für uns etwas so Sonderbares, Exotisches! Sich an einen schön
gedeckten Tisch setzen zu können und dann ein wirklich gutes Mahl
zu bekommen war für einen Wiener, der getrocknete Erbsen und Trockengemüse
essen musste, damit er nicht verhungert, wirklich grandios. Und ein
eigenes Zimmer mit Badezimmer – das waren für uns unvorstellbare
Konditionen. Uns kam der Aufenthalt wie im Paradies vor. Die Portugiesen
sind mir sehr freundschaftlich in Erinnerung geblieben, speziell mein
Pflegevater Henrique Amorim. Er war ein unverheirateter Mann in den
besten Jahren, ein Geschäftsmann, der viel mit dem Auto unterwegs
war. Dadurch sah ich schon in jungen Jahren viel von Portugal. Wenn
er mit den Ministerien in Lissabon zu tun hatte, durfte ich mit seinem
Citroen 11 CheVaux nach Lissabon mitfahren. Das war hochinteressant
und ein richtiges Abenteuer für mich.
WIE ERLEBTEN SIE DIE KULTURELLE UND DIE SPRACHLICHE UMSTELLUNG?
Ich kam mit einem kleinen Köfferchen nach Portugal und hatte kaum
etwas anzuziehen. Unter anderem hatte ich eine Lederhose, die bei uns
in Österreich tagtäglich getragen wurde und auch dementsprechend
aussah. Tia Rosa, die Schwester von Herrn Amorim,wusch sie mit Seife
und Wasser. Sie können sich vorstellen, wie sie nachher aussah.
Aber man ging mit mir zu einem Schneider und ich bekam dann wirklich
schöne Kleidung. Mein Pflegevater schenkte mir auch einen kleinen,
hauchdünnen, goldenen Siegelring mit meinen Initialen, den ich
mit Stolz und Freude trug. Die sprachliche Umstellung war anfangs schwer,
ich konnte ja nur Deutsch und ein paar Worte Englisch sprechen. Aber
ich lernte nach und nach die Sprache und fuhr dann mit sehr guten Portugiesischkenntnissen
wieder nach Wien. Mein Pflegevater behielt auch sehr viele deutsche
Worte.
WELCHE LEHREN ZOGEN SIE AUS JENER ZEIT FÜR SICH PERSÖNLICH?
Lehren zog ich insofern, als dass ich lernte, dass man auch als reiche
Person nicht auf seinem Reichtum sitzen bleiben, sondern für andere
Leute das Allermöglichste tun soll. Mein Pflegevater investierte
sein ganzes Geld in Santa Maria de la Lamas. Das fing damit an, dass
er Straßen bauen ließ. Die Korkindustrie ist sehr staubig
und in diesem Ort gab es viele Tuberkulosekranke. Mein Pflegevater erbaute
ein Spital für sie, ebenso errichtete er ein Altersheim und Schulen.
Sein Leitspruch war: „Ich würde am liebsten mit einem
Escudo in der Tasche sterben.“
SIE WAREN ALS KIND INSGESAMT VIERMAL BEI FAMILIE AMORIM IN PORTUGAL:
1948, 1949, 1951 UND 1956.
WIE GING ES DANACH WEITER?
Dann machte ich in Wien Matura und begann, Welthandel zu studieren.
Mittlerweile hatte ich mit Herrn Amorim schriftlich Kontakt. Eines Tages
trafen wir uns und er fragte: „Wie wär’s, willst
du nicht für uns arbeiten?“ Sicher war das reizvoll
für mich, ich hatte allerdings kurz vorher geheiratet. Dann kam
1963 ein Telegramm: „Komm zu uns, um die näheren Konditionen
zu verhandeln.“ Ich flog nach Portugal – das war mein allererster
Flug – und wir verhandelten die Bedingungen. Meine Frau und ich
fuhren mit zehn Kisten und Kartons nach Portugal und lebten südlich
von Porto, in Espinho. Unser Sohn wurde 1963 dort geboren. Bis 67 waren
wir in Portugal, dann gab es eine Situation, die ich wieder als reinen
Zufall bezeichne. Portugal hatte zu dieser Zeit noch Kolonien, was damals
von der kommunistischen Seite kritisiert wurde, sodass man einen Handelsboykott
gegen das Land errichtete. Die bei uns umliegenden, damals kommunistischen
Länder wie Ungarn, die Tschechoslowakei, Rumänien, Bulgarien
und die Sowjetunion waren weinproduzierende Länder und brauchten
Kork. Wir kamen dann auf die Idee, diesen Ländern keinen portugiesischen,
sondern österreichischen Kork zu verkaufen. Ich fuhr nach Wien,
gründete 1967 meine eigene Firma und betreute und bereiste dann
von Wien aus die gesamte osteuropäische Region aber auch China
und Indien und einige Länder in Afrika. Und meines Erachtens war
alles reiner Zufall. Hätte es den Handelsboykott nicht gegeben,
wäre ich wahrscheinlich in Portugal geblieben.
Das Interview mit Gerhard Schiesser wurde uns freundlicherweise vom
SOCIETY MAGAZIN zur Publikation zur Verfügung gestellt. Wir danken
Fr. Honorarkonsulin KR Prof. Mag. Gerti Tauchhammer für die Kooperation. |
Prof. Ali Meyer | IN VINO VERITAS |
Der Neue Weinbau 4.0
QUELLE: © Sciety
Magazin | Ausgabe 379 | Länder im Fokus | Society
Magazin »
BILDER: © Familie Schiesser | Korken
Schiesser »
weiterblättern
zur nächsten Seite CULINARIA PER TUTTI – KULINARIEN
FÜR ALLE »